Wintereinbruch
Damit war nicht zu rechnen gewesen, Winter wie es ihn früher gab, fand schon lange nicht mehr statt, nun heute diese Kälte. Gestern schien die Sonne, wärmte Schultern und Gesicht, machte den Tag im Freien, unter der Brücke erträglich. Heute trieb der Wind zuerst Regen im wechselndem Licht der Wolkenberge, dann peitschende grobe Schneekörner vor sich her. Trafen ihn ungeschützt.
Warum war er nicht bei ihnen geblieben? Die Andern hatten ein Feuer entzündet, mit Plastikplanen Wind und Schnee abgehalten. Sie waren laut, rot leuchteten ihre Gesichter vom Wein und Widerschein; Kurt bleib, wo willst du hin? Er hörte ohne zu antworten, packte seinen Rucksack, winkte aufschulternd mit der freien Hand, verließ den Unterstand und die Freunde der letzten Tage.
Festsetzen hätte er sich können, schön war’s, wenn nicht der Atem so schwer geworden wäre.
Nun beugt er sich vor dem Wind mit halbgeschlossenen Lidern, durchatmen können, jetzt da er allein, fast heiter den Graupeln des Schnees die Stirn bieten, die frostig gegen die Hände schlugen, sie erwärmten.
Weitausholend, die Beine steckten in groben wärmenden Schaftstiefeln, erreichte er die Innenstadt mit ihren Lichtreklamen und schützenden Vorbauten der Kaufhäuser. Menschen, gesichtslos geworden durch Mützen und Schals, hasteten an ihm vorüber, oder kamen aus Restaurants überrascht in den Schnee blinzelnd eilten sie zu ihren Autos. Windlos fiel nun der Schnee in dicken Flocken.
Er setzt sich auf seinen Rucksack, unter ihm vibriert der Luftschacht warm von den durchfahrenden U-Bahnen. Sieht den tanzenden von den Lichtreklamen unterschiedlich gefärbten Schneeflocken zu. Still war’s, nur eine Kirchturmuhr schlug, als wolle der Ton die Schneewand brechen, die dicht und unaufhörlich ihm die Sicht nahm.
Kurt wo warst du solange? Die erhobene Hand traf sein vor Kälte rotes Gesicht. Hab ich dir nicht gesagt; die Schläge prasselten auf ihn, der den Kopf in der Armbeuge versuchte sich zu schützen. Seit der Vater nicht mehr arbeitete, saß er Zuhause mit der Uhr in der Hand. Kurt hatte es erwartet, doch nichts konnte ihn davon abhalten mit Schulfreunden, nach dem Unterricht, rodeln zu gehen. Und wie sie die Abhänge hinunter gesaust waren, meist zu dritt auf einem Schlitten laut johlend kippten, sich im Schnee balgten, mit wohlgezielten Schneebällen. Prustend das Flockige schluckten, sich aus den Augen wischten nur um gezielt den nächsten Ball plazieren zu können. Der Hang widerhallte von ihrem Geschrei. Ein kurzes Vergnügen, atemlos rannten sie die Ranzen geschultert nach Hause. Die Schläge nahm er stumm und verbissen dafür auf sich.
Sie gehörten zu seiner Erinnerung wie der gleichmäßig fallende Schnee.
Er wollte weiter hinaus aus der Stadt, er wollte eine weite weiße Fläche sehen und sollte er Glück haben, vielleicht würde er einen Wald erreichen und das Weiß von den Zweigen schütteln. Längst war es Nacht geworden, eine helle Nacht und nun ganz menschenleer. Er lies die Häuser mit ihren hellen Rechtecken zurück, mäßigte seine Schritte, warm war ihm geworden. Er blieb stehen und sah sich um. Alle Unebenheiten zugedeckt mit einer schnell anwachsenden Schneedecke, strahlte großflächig, blendete seine Augen. Von Weitem teilten zwei Autoscheinwerfer den Schnee in zwei rosa Hälften. Zu spät um in einem Obdachlosenasyl ein Bett zu bekommen. Er würde hier nächtigen in diesem Unberührten, Stillem, umgeben von tanzenden Flocken, die zärtlich sein Gesicht berührten und schmolzen wie tausend kleine Küsse.
Morgen würde er zurückgehen sich wieder unter Menschen mischen, vielleicht wieder bei den Kumpels unter der Brücke sitzen, über ihre derben Witze lachen, Ausdruck ihrer aller Einsamkeit und Angst vor dem Alleinsein.
Aus seinem Rucksack nahm er die Schaumstoffrolle und eine Decke, sein Schlafsack ist längst gestohlen worden, verständlich, wenn man solange unterwegs war wie er.
So lag er zugedeckt auf dem Schaumstoff, blinzelte in den Nachthimmel und sah den schmalen Silberstreifen des Mondes.
Es hatte aufgehört zu schneien, der Wind frischte auf und aus Schnee wurde Eis.
Der Winter war zurückgekommen, und ganz kostenlos bekam Kurt seine eigene, Todesanzeige. Die Kumpels unter der Brücke reichten die Notiz in der Zeitung weiter; der hat es hinter sich, meinte einer und hob seine Tasse mit dampfendem Glühwein; las laut den Text:
Der Wintereinfall letzte Nacht forderte sein erstes Opfer, ein junger Mann wurde erfroren aufgefunden.
„ Prost Kurt, hast es hinter dir, bis bald".